„Soziales AIDS“ als Stigma

Anlässlich des nicht ganz freiwilligen Outings von Conchita Wurst, wollen wir ein paar Gedanken zum Umgang mit dem HI-Virus in der Gesellschaft bringen.
Zwar hat sich in den letzten 20 Jahren rechtlich viel getan, bezüglich unseres gesellschaftlichen Umgangs mit der Immunschwächeerkrankung befinden wir uns jedoch noch immer im tiefsten Mittelalter. HIV-positive Menschen werden sogar in Krankenhäusern oder bei ÄrztInnen, die in der Regel besser als die Allgemeinbevölkerung aufgeklärt sind, diskriminiert, bei der Behandlung an die letzte Stelle gereiht oder erst gar nicht behandelt. Darüber hinaus kommt es auch im Arbeitsleben, in Ausbildungsstätten, in Schulen und Kindergärten und im Privatleben zu massiven Diskriminierungen.HIV ist noch immer ein großes kulturelles, soziales und psychologisches Stigma. Medizinisch betrachtet ist HIV heute kaum noch ein Problem. Das so genannte „Soziale AIDS“ hingegen ist für von HIV-Betroffene eine immense Belastung. Für den schlechten gesellschaftlichen Umgang mit HIV kommen verschiedene Ursachen in Frage, die einander ergänzen:

– Eine Sozialpsychologische Erklärung sieht HIV in unserem kulturellen Gedächtnis als Strafe Gottes für sündhafte Sexualität verankert (siehe Bild). Diese Erfahrung machen auch die BeraterInnen der AIDS-Hilfen, wenn etwa Menschen bei nach Fremdgehen etc. Angst haben, sie würden nun mit HIV oder anderen STDs als Strafe für das Fremdgehen bestraft.
– HIV wird generell als moralisch verwerfliche und „schmutzige“ Krankheit wahrgenommen, da es vor allem beim Sex übertragen wird.
– HIV-positive Menschen übernehmen diese negativen Bilder und Schuldzuschreibungen in ihr Selbstbild. Sie entwickeln oft große Schuldgefühle und sehen nicht mehr den einzelnen Fehler (z.B. ungeschützten Sex) als Ursache für die Infektion, sondern nehmen sich selbst als Person schuldhaft und schlecht wahr.
– Sehr belastend sind auch Mehrfachdiskriminierungen: etwa wenn ein Mensch nicht nur wegen seines HIV-Status‘, sondern auch wegen seiner Hautfarbe, seiner ethnischen Herkunft, seines Geschlechts und/oder seiner sexuellen Orientierung diskriminiert wird – siehe etwa diese Hasspostings
Der Umgang mit HIV ist sehr unterschiedlich: Einerseits werden die Übertragungsrisiken im Alltag massiv überschätzt (siehe die etwa falsche Annahme, HIV  könne beim Händeschütteln, beim Küssen, über das gemeinsame Benutzen von Besteck, im Schwimmbad, auf dem WC oder durch Zigaretten übertragen werden).  HIV-positive Menschen werden aufgrund von Unwissenheit und Fehlannahmen  ausgegrenzt. Andererseits werden tatsächliche Risiken (etwa ungeschützter Sex) verdrängt und abgespalten. Gerade diese Abspaltungsmechanismen führen aber oft zur Sündenbockfunktion von HIV-positiven Menschen.

Ein Zitat des gesellschaftskritischen Psychoanalytikers Horst E. Richter, das bereits über 25 Jahre alt ist, an Brisanz jedoch nichts verloren hat, soll uns bezüglich des phobischen Umgangs mit HIV zu denken geben. Es führt uns vor Augen, dass die Humanität einer Gesellschaft daran zu messen ist, wie sie mit allen Minderheiten umgeht:
„Allgemeines Verwundern erregt es, daß die massenhafte Information über die sehr begrenzten spezifischen Ansteckungswege (sc. von HIV, d.V.) eine Mehrheit nicht daran hindert, sich vor jeglichem noch so unbedenklichen Umgang mit Virusträgern schützen zu wollen. Selbst in Kreisen fachlich Gebildeter grassiert diese irrationale Abgrenzungsobsession. Es ist, als ob mittelalterlicher Aberglaube wieder auferstehe. Im Kopf – so sagen viele – weiß ich sehr wohl, daß mir, wenn ich mit AIDS- [und HIV-, d.V.] Infizierten am Tisch sitze oder ihnen die Hand gebe, nichts passiert. Trotzdem reagiere ich panisch, wenn ich mir solche Situationen auch nur vorstelle.
Was da in Wahrheit nicht ausgehalten wird, ist nicht der fremde, vermeintlich gefährliche Virusträger, sondern das Abbild der eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit […] Mit Infizierten in humaner Form kommunizieren kann nur, wer sich mit der eigenen Sterblichkeit aussöhnen gelernt hat. Dieses Lernen wird nun aber zu einer der dringendsten sozialen Zukunftsaufgaben, da wir vor der Wahl stehen, entweder überall in humanitärer Solidarität […] zusammenzuleben oder in die Barbarei der Ausgrenzung »unwerten Lebens« nach faschistischem Muster zurückzufallen.“ (zit. nach Hort Eberhard Richter, Leben statt machen. Einwände gegen das Verzagen. Aufsätze, Reden, Notizen zum „neuen Denken“. Hamburg 1987, S. 13.)

Fazit: In Österreich wird keinesfalls rational und vernünftig mit HIV umgegangen. Zwar hat sich in den letzten 20 Jahren rechtlich viel getan, bezüglich unseres gesellschaftlichen Umgangs mit der Immunschwächeerkrankung befinden wir uns jedoch noch immer im tiefsten Mittelalter. Waren es früher die Syphilis und andere venerische Erkrankungen, die in unserem kollektiven Unbewussten und kulturellen Gedächtnis als moralisch verwerflich und als Strafe Gottes galten, so ist es heute HIV. An HIV werden Verleugnungs- und Abwehrmechanismen, Abspaltung und Projektion sowie die archaische Sündenbockdynamik besonders deutlich.

 

Bild: Joseph Grünpeck: Das Christuskind straft die Menschheit mit Syphilis (Holzschnitt 1496) (gemeinfrei)

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